Die Zukunft Europas aus der Sicht regionaler Abgeordneter: Engagierter Pessimismus

Vor dem Hintergrund der Konferenz zur Zukunft Europas stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Regionen im zukünftigen europäischen Mehrebenensystem. Mit Hilfe von Daten aus einer Abgeordnetenbefragung, die das Forschungsprojekt REGIOPARL in sieben verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten durchgeführt hat, soll dieser Frage nachgegangen werden. Dafür werden die Antworten der Abgeordneten zum Europa der Zukunft in diesem Beitrag ausgewertet. Wie die Analyse zeigt, dominiert in den meisten Mitgliedstaaten die Zustimmung zu den bestehenden Kompetenzen und Strukturen der EU. Gleichzeitig treffen die meisten Befragten keine optimistische Prognose für eine gestärkte Rolle der Regionen in der EU.

Die Debatte um eine weitere EU-Integration und die Frage danach, welche Gesetzgebungskompetenzen die EU ausführen soll, reißt nicht ab. Begleitet wird die Diskussion von der Diagnose eines Demokratie- und Legitimitätsdefizits. Vor diesem Hintergrund fand zuletzt die Konferenz zur Zukunft Europas statt, die europäischen Bürger:innen über verschiedene Beteiligungsformate die Möglichkeit bot, Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU zu machen.

Regionalparlamente und die Zukunft Europas: viele Erwartungen, wenig Partizipationsmöglichkeiten

Regionalparlamente spielen bei der oben umrissenen Debatte um Demokratiedefizite, europäische Integration und die Zukunft Europas weiterhin eine untergeordnete Rolle, trotz des großen Vermittlungspotenzials zwischen EU und Bürger:innen. Wie etwa der Präsident des Ausschusses der Regionen (AdR), Apostolos Tzitzikostas, argumentiert, können „Regional- und Kommunalpolitiker […] nicht nur die Kluft zwischen den Bürgern und den EU-Organen überbrücken, sondern sie können auch wertvolle Erfahrungen zur Bereicherung des demokratischen Wesens der Union beisteuern“ (AdR 2021). Zudem ist die regionale Ebene zwar für die Umsetzung von Gesetzen und Entscheidungen verantwortlich, die in EU-Kommission und -Parlament beschlossen wurden, hat dabei aber sehr wenige Möglichkeiten zur Einflussnahme im Gesetzgebungsprozess. Wie der AdR als politische Priorität formuliert, müssen „[a]lle Entscheidungen […] im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden. Dies beinhaltet auch, dass die Rolle der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in der EU deutlich gemacht und gestärkt wird“ (AdR 2020, S. 3).

Doch wie optimistisch sind die Repräsentant:innen in den Regionalparlamenten selbst, dass ihre Rolle in Zukunft tatsächlich gestärkt wird? Welche Kompetenzen sollte die EU aus ihrer Sicht übernehmen und welche auf regionaler oder nationaler Ebene belassen? Kurz: wie denken Abgeordnete europäischer Regionalparlamente eine EU der Zukunft?

 

Die REGIOPARL-Befragung: regionale Stimmen zur Zukunft Europas in Zahlen

Zur Beantwortung dieser Fragen hat das Forschungsprojekt REGIOPARL in einer umfangreichen Befragung regionaler Abgeordneter auch nach deren Einschätzungen zur Zukunft der EU gefragt. Insgesamt haben zwischen November 2020 und Juli 2021 1233 Abgeordnete aus 7 Mitgliedstaaten und 103 Regionen Fragen zur Zukunft der EU vollständig beantwortet, wobei knapp die Hälfte der Abgeordneten aus Deutschland (320) und Österreich (270) kamen, während die Beteiligung in Polen (89) und Frankreich (79) gering ausfiel. Die restlichen Befragungen wurden mit Abgeordneten aus Spanien (186), Tschechien (135) und Italien (154) durchgeführt.

In der ersten Frage zur Zukunft der EU wurde für verschiedene Szenarien gefragt, wie diese von den Abgeordneten bewertet werden, ob es sich also beispielsweise bei der Ausweitung der EU-Kompetenzen und einer engeren Kooperation der Mitgliedstaaten um eine wünschenswerte Option handelt. Die weiteren Optionen orientieren sich an den fünf Szenarien zur Zukunft der EU, die die Europäische Kommission im März 2017 unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker in ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ vorstellte. Die Befragten hatten die Möglichkeit anhand von vier Antwortmöglichkeiten ihre Einschätzung abzugeben und mit „Sehr gute Option“ bzw. „eher gute Option“ ihre Zustimmung auszudrücken, oder alternativ mit „eher schlechte Option“ oder „sehr schlechte Option“ ihre Ablehnung. Die Antworten werden im Folgenden entsprechend ihrer prozentualen Anteile mit (eher) gut und (eher) schlecht zusammengefasst, wobei nicht auf alle Szenarien im Detail eingegangen werden kann.

Beim ersten Szenario „Die EU soll mit den bisherigen Strukturen und Zuständigkeiten weiterarbeiten“ war die Meinung geteilt, mit insgesamt 55 % der Abgeordneten, die diese Option als (eher) gut bewerten, wobei die Abgeordneten in Polen besonderes zufrieden mit der bisherigen Kompetenzverteilung sind und diese auch in Zukunft beibehalten wollen (81 %). Die meisten Befragten in Deutschland (59 %) und Tschechien (53 %) sehen andererseits einen Bedarf für Anpassungen in der Zukunft, wobei in Deutschland das Erfordernis für mehr EU-Kompetenzen gesehen wird während in Tschechien eine Beschränkung befürwortet wird, wie aus den weiteren Antworten hervorgeht.

Interessanterweise sprechen sich beim zweiten Szenario „Die EU soll sich ausschließlich auf den Binnenmarkt konzentrieren und alle anderen Zuständigkeiten an die Mitgliedsstaaten abgeben“ die Mehrheit der polnischen Abgeordneten (54 %) für diese Option aus und ein Viertel der Befragten hält dies sogar für eine „sehr gute Option“. Eine Interpretation dieser scheinbar widersprüchlichen Antworten ist auch aufgrund der geringen Fallzahl aus Polen nur eingeschränkt tragfähig. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die EU von den polnischen Abgeordneten gegenwärtig insbesondere als Wirtschafts-Union wahrgenommen wird und somit kein genereller Anpassungsbedarf (erstes Szenario) gesehen wird.  Auch die (Mehrheit) der tschechischen Befragten (56 %) sehen in dieser Anpassung der EU-Kompetenzen eine (eher) gute Option, während in allen anderen Staaten die Skepsis deutlich überwiegt. Eine große Einigkeit unter den spanischen Abgeordneten fällt hier in den Blick, von denen 84 % eine EU ablehnen, die sich in Zukunft nur auf den Binnenmarkt konzentriert. Hier könnte sich in Abgrenzung zu Polen somit der Wunsch nach einer EU als politischer und kultureller Wertegemeinschaft zeigen.

Thematisch in eine ähnliche Richtung geht auch das vierte Szenario „Die EU soll sich auf einige wenige ausgewählte Politikbereiche konzentrieren und in allen anderen Bereichen ihre Zuständigkeiten an die Mitgliedsstaaten abgeben“. Die Antworten fallen ähnlich aus, wenn auch die Verteilung zwischen (eher) Zustimmung (58 %) und (eher) Ablehnung (42 %) etwas ausgeglichener ist. Die Antworten der italienischen Abgeordneten fallen bei diesem Szenario besonders in Auge. 56 % der Befragten gaben an, das es sich bei der Beschränkung auf ausgewählte Politikbereiche um eine (eher) gute Option handelt, während nur 34 % eine reine Beschränkung auf den Binnenmarkt für die Zukunft befürworten. Setzt man diese beiden Antworten in Beziehung ergibt sich ein Bild, nachdem die italienischen Befragten zwar eher einer Kompetenzbeschränkung der EU zustimmen, eine Reduzierung auf Kompetenzen zur Regelung des Binnenmarktes aber entweder zu weit gehen oder nicht die Bereiche erfassen, in denen sich die Abgeordneten eine Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten wünschen.

Entsprechend der Ablehnung zu zukünftigen Kompetenzbeschränkungen der EU antworteten die Befragten beim fünften Szenario „Die Mitgliedstaaten sollen in allen Politikfeldern viel mehr gemeinsam machen und die Zuständigkeiten dafür an die EU übergeben“ mit überwiegender Zustimmung (59 %), wobei hier die eher euroskeptische Haltung der tschechischen Befragten (36 %) einer deutlichen Befürwortung in Frankreich (77 %) und Spanien (74 %) gegenübersteht.

 

Der Realitäts-Check: …und alles bleibt so, wie es ist?

Beim zweiten Fragenblock „Wie wird sich die EU Ihrer Meinung nach in den nächsten 10 Jahren weiterentwickeln? Für wie wahrscheinlich halten Sie die folgenden Entwicklungen?“ wurden fünf verschiedene Szenarien vorgegeben, die von der Auflösung der EU bis zur Vertiefung der Zusammenarbeit oder der stärkeren Einbeziehung der Regionalparlamente in der EU reichen. Die befragten Abgeordneten wurden auch hier gebeten, die Wahrscheinlichkeit eines Szenarios in einer vierstufigen Skala von „sehr wahrscheinlich“ über „eher wahrscheinlich“, „eher unwahrscheinlich“ bis „sehr unwahrscheinlich“ einzuordnen. Dabei ging es entsprechend der Fragestellung aber nicht um die gewünschte Entwicklung der EU sondern um die tatsächlichen Zukunftsaussichten. Insgesamt zeigte sich bei den meisten Szenarien deutliche Einigkeit unter den Befragten. Während das gänzliche Scheitern der EU in allen Staaten als (eher) unwahrscheinliches Szenario (88 %) eingeschätzt wurde, waren die Meinungen, ob es zu weiteren Exits von Mitgliedsländern kommt, gemischt. Die Befragten aus Italien (78 %), Tschechien (55 %) und Frankreich (54 %) halten dies für das (eher) wahrscheinliche Szenario. Auch beim Szenario „Die Stimme der Regionen wird ein stärkeres Gewicht in der EU erhalten“ gab es ein geteiltes Echo. Die Abgeordneten der Regionalparlamente in Polen (71 %), Italien (67 %) und Österreich (52 %) sind tendenziell zuversichtlich, künftig in der EU mehr Einfluss zu erhalten. In Tschechien wird diese Einschätzung nur von 31 % der Befragten geteilt und auch in Deutschland (37 %) und Frankreich (38 %) machen sich die Abgeordneten wenig Hoffnung.

Insgesamt zeigen sich bei der ersten Frage deutliche Differenzen zwischen den Antworten aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten, wobei die meisten Befragten die bisherige Rolle der EU befürworten. Bei der zweiten Frage gibt es hingegen wenige divergierende Einschätzungen, diese aber insbesondere im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit und Rolle der Regionen in der EU. Die Befragten in Tschechien gaben eher euroskeptische Antworten und waren dementsprechend auch in ihren Prognosen pessimistischer. Sie wünschen sich einen Abbau von EU-Kompetenzen. Auf der anderen Seite stehen beispielsweise die Befragten aus Spanien und Frankreich, die sich eine EU mit mehr Kompetenzen und Zusammenarbeit wünschen und eine solche Entwicklung auch für eher wahrscheinlich halten. Die Antworten der Abgeordneten aus Italien lassen sich nicht eindeutig in eine Richtung zuordnen. Während sich einerseits eine Mehrheit für die verstärkte Kooperation und weitere EU-Kompetenzen ausspricht, wünscht sich ebenfalls eine Mehrheit die Beschränkung der EU auf einige wenige Themenfelder. Ebenso uneindeutig sind die Antworten der polnischen Abgeordneten, die einerseits mit der bisherigen EU, wahrgenommen als Wirtschafts-Union, zufrieden sind, sich andererseits aber eine Erweiterung der EU-Kompetenzen und der europäischen Zusammenarbeit wünschen – und auch mit Blick auf die Rolle der Regionen eine optimistische Prognose abgeben. Die Antworten aus Deutschland ergeben ein Bild, nach dem sich einerseits eine Ausweitung europäischer Kompetenzen gewünscht wird, andererseits aber nicht an Veränderungen hin zu einer stärkeren Zusammenarbeit geglaubt wird. Eine ähnliche Einschätzung wird in Österreich gegeben, wobei die Befragten hier mehrheitlich keinen generellen Anpassungsbedarf bei den Kompetenzen und Strukturen der EU sehen.

In zwei Punkten sind sich die Abgeordneten aller Mitgliedsstaaten aber einig: die EU bleibt bestehen und an der politischen Zusammenarbeit wird sich wenig ändern. Ob vor diesem Hintergrund ein Erstarken der Regionalparlamente im europäischen Mehrebenengefüge eine realistische Erwartung ist, bleibt abzuwarten. An diese Entwicklung kann auch die Frage geknüpft werden, ob die Abgeordneten der Regionalparlamente sich auch in Zukunft ein so positives und EU-bejahendes Bild bewahren oder ob aus Resignation Skeptizismus wird, sollte sich, entsprechend der Erwartung der meisten Abgeordneten, auch weiterhin nichts ändern.

 

Quellen:

Europäischer Ausschuss der Regionen. (2021, 7. Mai). Die Konferenz zur Zukunft der EU muss in die Regionen, Städte und Dörfer getragen werden – nur dann können die Bürgerinnen und Bürger ein besseres Europa mitgestalten. [Pressemeldung]. Online verfügbar unter: https://cor.europa.eu/de/news/Pages/cor-ready-to-bring-conference-on-the-future-of-eu-to-shape-a-better-europe.aspx, zuletzt geprüft am 30.05.2022

 

Europäischer Ausschuss der Regionen (2020). Europas Bürgernähe stärken. Die politischen Prioritäten des Europäischen Ausschusses der Regionen 2020–2025. Online verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/brochures/Documents/Bringing%20Europe%20closer%20to%20people%20-%20The%20political%20priorities%20of%20the%20European%20Committee%20of%20the%20Regions%202020-2025/4325%20Political%20Priorities%20Brochure%20DE.pdf, zuletzt geprüft am 31.05.2022