Ein wenig mehr Europa, bitte!
Am Sonntag wurde in Österreich gewählt. Es war eine “nationale” Wahl (Nationalratswahl), in der europapolitische Fragen kaum eine Rolle spielten. Warum das jedoch wünschenswert gewesen wäre, diskutiert dieser Beitrag.
“Nun sag, wie hast du’s mit Europa?” Dieser Frage mussten sich die wahlwerbenden Parteien und ihre SpitzenkandidatInnen im jüngsten Nationalratswahlkampf in Österreich kaum stellen – trotz unzähliger Diskussionsformate in TV und den (digitalen) Medien. Warum auch, ließe sich fragen. Schließlich fanden heuer im Mai bereits die Wahlen zum Europäischen Parlament statt, wo eine Diskussion der Zukunftsvisionen der Parteien für die Europäische Union ohnedies besser aufgehoben wäre.
Warum überhaupt Europa bei Nationalratswahlen?
Auf den ersten Blick mag dies überzeugend klingen. Allerdings wird dabei ausgeblendet, dass die in Folge der Nationalratswahlen gebildete Bundesregierung Österreich in den dafür vorgesehenen Organen der EU vertritt: die MinisterInnen im Rat der EU, der/die BundeskanlzerIn im Europäischen Rat. Der Rat, der in diversen Formationen als Rat der Fachminister (Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit etc.) tagt, fungiert auf europäischer Ebene immerhin als Co-Gesetzgeber neben dem Europäischen Parlament und entscheidet, ebenfalls mit dem Europäischen Parlament, über den EU-Haushalt. Im Europäischen Rat wiederum geben die Staats- und Regierungschefs die “großen Linien” für die weitere Entwicklung der Union vor und legen hierfür die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest. Ebenso befasst sich der Europäische Rat gegebenenfalls mit jenen politisch sensiblen Themen, bei denen eine Einigung auf den niedrigeren Ebenen nicht möglich war (wie dies in den vergangenen Jahren etwa häufig im Bereich der Migrationspolitik der Fall war).
Die Mitgliedstaaten, vertreten durch die jeweilige Regierung, nehmen im EU-Institutionengefüge damit nach wie vor eine tragende Rolle ein. Dies gilt insbesondere in der Frage der Änderung der Verträge, wenn beispielsweise Zuständigkeiten der Union ausgeweitet oder auch eingeschränkt werden sollen. Hier führt kein Weg an den Mitgliedstaaten vorbei, die nicht umsonst auch als “Herren der Verträge” bezeichnet werden und solche Änderungen einstimmig beschließen müssen. Das Europäische Parlament, und mit ihm die im Mai gewählten 18 österreichischen Abgeordneten, neben dabei maximal eine Nebenrolle ein.
Ein Blick auf die politische Agenda Europas
Im November soll die neue EU Kommission unter der Leitung der designierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Arbeit aufnehmen. Dieser Tage finden im Europäischen Parlament die Anhörungen der jeweiligen KommissionsanwärterInnen statt. Welche Prioritäten verfolgt das neue Team unter von der Leyen – und wie wird sich die künftige österreichische Bundesregierung dazu positionieren? Was ist von den für 2020 geplanten groß angelegten Bürgerkonsultationen, die von der Leyen angekündigt hat, zu erwarten? Und welche allfälligen Reformvorschläge wird eine österreichische Bundesregierung mitzutragen bereit sein?
Von großer Bedeutung ist auch der Fortgang der laufenden Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027. Spiegeln sich die Forderungen nach europäischen Lösungen, die in zahlreichen Politikbereichen von vielen Seiten eingemahnt werden, auch in der Bereitschaft der politischen Parteien (und hier vor allem potenzieller Regierungsparteien), die EU dafür mit den erforderlichen budgetären Mitteln auszustatten?
Von wahlstrategischen, “nationalen” und europapolitischen Interessen
Dass die politischen Parteien in Wahlkampfzeiten lieber auf ihre Kernthemen fokussieren, als sich den großen Fragen um die künftige (Weiter-)Entwicklung Europas zu widmen, mag aus wahlstrategischer Sicht und kurzfristig gedacht durchaus rational sein. Die politische Öffentlichkeit – und die Massenmedien als ihre zentralen Akteure – sollte hingegen den demokratiepolitischen Weitblick haben, auch und gerade in Wahlkampfzeiten Antworten auf diese Fragen einzufordern. Denn ob den Rufen nach europäischen Lösungen, die mittlerweile in zahlreichen Politikbereichen (wie etwa beim Klimaschutz oder in Fragen der Migration) von unterschiedlichen Seiten zu vernehmen sind, überhaupt entsprochen werden kann, hängt nicht zuletzt von den Positionen der Mitgliedstaaten ab.
Zugleich zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass es im institutionellen Gefüge der EU eben gerade die Regierungen der Mitgliedstaaten sind, die unter Hochhaltung eines vermeintlichen “nationalen Interesses” im Rat und im Europäischen Rat bei großen europäischen Lösungen häufig auf der Bremse stehen. Sollen sie das auch in Zukunft weiterhin können? Welche Auswirkungen hätte das auf die Problemlösungsfähigkeit der Europäischen Union? Und welche Alternativkonzepte dazu gäbe es?
Die künftige österreichische Bundesregierung wird mit ihrer Positionierung im EU-Institutionengefüge maßgeblich an der (gegebenenfalls auch institutionellen) Weiterentwicklung der EU beteiligt sein. Grund genug eigentlich, die jeweiligen Europa-Konzepte der österreichischen Parteien auch im Rahmen einer “nationalen” Wahlauseinandersetzung genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit ein wenig Mercosur hier und EU-Außengrenzschutz da ist es freilich nicht getan. Im Sinne effektiver Repräsentation vermerken wir daher auf unserem Wunschzettel für den nächsten Nationalratswahlkampf: ein wenig mehr Europa, bitte!
Ein Artikel von Dr. Sarah Meyer und Michael Heber
Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist am 2.10.2019 in der Wiener Zeitung erschienen.