Europapolitik durch die Brille österreichischer Landtagsabgeordneter
Welchen Stellenwert haben Europathemen für österreichische Landtagsabgeordnete, welche Einflussmöglichkeiten sehen sie und auf welche Kooperationsnetzwerke greifen sie zurück? Der Blogbeitrag stellt erste Ergebnisse dazu aus der REGIOPARL-Befragung österreichischer Landtagsabgeordneter vor.
Am 19. Juni tagte erstmals das Konferenzplenum der derzeit laufenden Konferenz zur Zukunft Europas. Diese wurde von den EU-Institutionen im Mai offiziell gestartet und soll bis zum Frühjahr 2022 konkrete Ergebnisse liefern. Erklärtes Ziel ist eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der EU und ihrer Politiken.
Die Frage nach einer stärkeren Beteiligung stellt sich im komplexen EU-Mehrebenensystem jedoch nicht nur für die Bevölkerung. Auch für Parlamentarier der subnationalen bzw. regionalen Ebene ist sie äußerst relevant, denn sie verfügen auf europäischer Ebene kaum über institutionalisierte Einflussmöglichkeiten.
Die Forschung zur europapolitischen Aktivität regionaler Parlamente (in Österreich: Landtage) befasste sich zunächst mit Fragen der institutionellen Anpassung, während das Engagement der einzelnen Abgeordneten weitgehend unbeleuchtet blieb. Welchen Stellenwert haben Europathemen für die Abgeordneten, welche Einflussmöglichkeiten sehen sie und auf welche Kooperationsnetzwerke greifen sie zurück? Mit diesen Fragen befasst sich das Forschungsprojekt REGIOPARL. Im vorliegenden Beitrag werden erste Ergebnisse einer standardisierten Befragung unter sämtlichen österreichischen Landtagsabgeordneten vorgestellt (Rücklaufquote je nach Frage zwischen 56% und 65% aller 439 Landtagsabgeordneten).
Im föderalen Österreich mit seiner Einbettung im europäischen Mehrebenensystem können politische Entscheidungen der höheren Ebenen den Gestaltungsspielraum der Bundesländer gravierend beeinflussen. Wie schätzen österreichische Landtagsabgeordneten diesen Einfluss gegenwärtig ein? Während mehr als die Hälfte der Befragten (54%) einen großen oder sehr großen Einfluss der nationalen Ebene auf den politischen Gestaltungsspielraum in der Region wahrnehmen, sehen immerhin knapp ein Drittel (32%) auch einen großen bzw. sehr großen Einfluss der europäischen Ebene (n=264).
Dass die Stimme der Regionen in den nächsten zehn Jahren ein stärkeres Gewicht in der EU erhalten wird, hält die Mehrheit der Befragten für eher oder sehr wahrscheinlich (52%, n=277). Gar 90% der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Regionen das Thema Europa in ihrer politischen Arbeit wichtiger nehmen sollten (44% stimmen eher, 46% stimmen sehr zu, n=286).
Dies könnte auch als Handlungsauftrag der Abgeordneten an sich selbst oder andere regionalpolitische Akteure interpretiert werden und gibt noch keinen Aufschluss über ihre EU-bezogenen parlamentarischen Aktivitäten. Zu solchen zählen neben klassischen parlamentarischen Instrumenten (z.B. Anfragen, Anträge oder Stellungnahmen zur Subsidiaritätsprüfung von EU-Vorhaben) auch informelle Kanäle – etwa, wenn Landtagsabgeordnete über Kontakte mit anderen Akteuren versuchen, politische Prozesse in der EU im Sinne ihrer Region zu beeinflussen.
Die Befragungsdaten zeigen, dass die eigene Landesregierung ein wichtiger Kooperationspartner der Landtagsabgeordneten in EU-Angelegenheiten ist (93% der Befragten geben diesbezügliche Kontakte an, n=244), ebenso die regionalen Behörden und Verwaltung (91%), das nationale Parlament (89%), aber auch Gemeindevertreter (88%) und andere österreichische Landtage (85%). Immerhin 79% berichten zudem, mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MdEP) zu kooperieren – weit mehr als mit den regionsspezifischen Einrichtungen in Brüssel, wie dem eigenen Regionalbüro (63%) oder dem Europäischen Ausschuss der Regionen (65%). Im Vergleich mit MdEP haben selbst mit der eigenen Bundesregierung etwas weniger der Befragten (78%) entsprechende Kontakte. Ein wichtiger Kontaktpartner in EU-Angelegenheiten sind auch die Medien (84%), während Mitglieder der Europäischen Kommission mit 45% das Schlusslicht unter den insgesamt 15 abgefragten Akteuren darstellen.
Gleichwohl dienen die Kontakte mit den diversen Akteuren unterschiedlichen Zwecken: Während mit Gemeindevertretern (61%) und Medien (43%) primär kooperiert wird, um Informationen an diese weiterzugeben, steht bei allen anderen Akteuren der Informationserhalt im Vordergrund. Häufigster Adressat der Abgeordneten, um ihre Anliegen in europapolitischen Belangen durchzusetzen, ist dagegen die eigene Landesregierung (36%). Aber auch MdEP (29%) werden vergleichsweise häufig zu diesem Zweck kontaktiert – öfter noch, als wesentliche nationale Player wie Bundesregierung und Parlament (jeweils 25%).
Gefragt nach allfälligen Schwierigkeiten, wenn sie sich in europapolitischen Fragen engagieren möchten, nennen die Abgeordneten als häufigsten Grund die aus ihrer Sicht zu wenig wirkungsvollen Einflussmöglichkeiten auf europäischer Ebene (64%), während nur 10% angeben, europapolitische Themen seien für die Region nicht dringlich.
Dieser deskriptive Ausschnitt der Befragungsergebnisse zeigt, dass österreichische Landtagsabgeordnete dem Thema Europa durchaus große Bedeutung beimessen und mit verschiedenen Akteuren kooperieren, um sich europapolitisch entsprechend einzubringen. Ihre weiteren parlamentarischen Aktivitäten sowie Einblicke aus Regionalparlamenten anderer EU-Mitgliedstaaten sind Gegenstand künftiger Analysen des Forschungsprojektes. All jenen Landtagsabgeordneten, die eine verstärkte Mitwirkung in europäischen Politikprozessen anstreben, bietet sich mit der Konferenz zur Zukunft Europas aktuell jedenfalls eine günstige Gelegenheit – schließlich sind im 433-köpfigen Konferenzplenum auch 18 Delegierte des Europäischen Ausschusses der Regionen vertreten, die aus unterschiedlichen Regionalparlamenten und -regierungen in der EU kommen.
Anhang: Informationen zur Befragung
Format und Erhebungszeitraum: Die Befragung österreichischer Landtagsabgeordneter wurde online durchgeführt, die Abgeordneten erhielten per Email einen Link zur Befragung. Die Befragung wurde von Mitte Februar bis Ende April 2021 durchgeführt (dem ging eine Piloterhebung im NÖ Landtag von Oktober 2019 bis Februar 2020 voraus).
Repräsentativität: Im Sample ausgewogen repräsentiert sind männliche und weibliche Abgeordnete sowie annähernd auch Mitglieder der jeweiligen Europaausschüsse in den Landtagen; unterrepräsentiert sind Abgeordnete der Landtage Wien und Kärnten sowie der FPÖ und SPÖ, während Abgeordnete der Landtage Oberösterreich, Tirol und Salzburg sowie der Grünen überrepräsentiert sind.
Wortlaut der Fragestellungen zu den im Text präsentierten Ergebnissen: (1) Einfluss politischer Ebenen auf regionalen Gestaltungsspielraum: Was meinen Sie: Wie groß ist der Einfluss der folgenden Ebenen [kommunale, regionale, nationale, europäische Ebene] auf den politischen Gestaltungsspielraum in Ihrer Region? Bitte bewerten Sie von 1-5, wobei 1= kein Einfluss, 2= wenig Einfluss, 3= mittlerer Einfluss, 4= großer Einfluss und 5= sehr großer Einfluss bedeutet. (2) Szenarien EU in 10 Jahren: Wie wird sich die EU Ihrer Meinung nach in den nächsten 10 Jahren weiterentwickeln? Für wie wahrscheinlich halten Sie die folgenden Entwicklungen [Die Stimme der Regionen wird ein stärkeres Gewicht in der EU erhalten.]? Bitte bewerten Sie von 1-4, wobei 1= sehr wahrscheinlich, 2= eher wahrscheinlich, 3= eher unwahrscheinlich und 4= sehr unwahrscheinlich bedeutet. (3) Wichtigkeit Europathema für Region: Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu [Die Regionen sollten das Thema Europa in ihrer politischen Arbeit wichtiger nehmen.]? Stimme sehr zu, stimme eher zu, stimme eher nicht zu, stimme gar nicht zu. (4) Kooperation mit Akteuren: Wie häufig kooperieren Sie mit folgenden Akteuren/Institutionen, wenn Sie politische Prozesse in der EU im Sinne Ihrer Region beeinflussen wollen [Liste mit 15 Akteuren auf lokaler/regionaler, nationaler und europäischer Ebene]? Bitte geben Sie von 1-5 an, ob Sie 1= sehr oft, 2= oft, 3= manchmal, 4= selten und 5= nie mit diesen Akteuren/Institutionen kooperieren. Die Prozentangaben im Text beziehen sich auf alle Befragten, die angeben, mindestens selten mit dem jeweiligen Akteur zu kooperieren, n=244. (5) Zweck der Kontakte mit Akteuren: Für jeden abgefragten Akteur konnten die Befragten bis zu vier unterschiedliche Zwecke des Kontaktes mit dem jeweiligen Akteur nennen, die exakte Fragestellung lautete: Wie gestaltet sich der Kontakt mit den eben genannten Akteuren, wenn Sie politische Prozesse in der EU beeinflussen wollen? Ich habe Kontakt mit [Akteur 1, 2 etc.] …damit ich Informationen erhalte / damit ich Informationen weitergebe / damit meine Anliegen weitergeleitet werden / damit meine Anliegen durchgesetzt werden (Mehrfachnennung möglich). Die Prozentangabe entspricht dem Anteil der Nennung des jeweiligen Zweckes pro Akteur an allen Abgeordneten, die die zuvor gestellte Frage nach ihren Kontakten mit den Akteuren beantwortet haben (n=244). (6) Hindernisse: Auf welche Schwierigkeiten treffen Sie in Ihrem Arbeitsalltag, wenn Sie sich in europapolitischen Fragen engagieren wollen? [Acht vorgegebene Antwortoptionen] Mehrfachnennung möglich.